31.10.2024 - 07:40

Ganztagsausbau: Mehr Chancengerechtigkeit durch Sprachbildung

Ab 2026 haben alle Erstklässlerinnen und Erstklässler Anspruch auf Ganztagsbetreuung. Neben der Herausforderung durch den Fachkräftemangel bietet die Ganztagsbetreuung auch Chancen: Gut umgesetzt, könnte sie ein geeigneter Rahmen für gezielte Sprachförderung sein - wie das Beispiel Baden-Württemberg zeigt.

In zwei Jahren ist es so weit. Ab August 2026 tritt der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Schulkinder der 1. Klasse deutschlandweit in Kraft. Laut Bundesministerium für Bildung und Forschung sieht dieser eine „verlässliche Betreuung von acht Stunden täglich an fünf Tagen in der Woche“ vor. In den Folgejahren wird er jeweils um eine Klassenstufe erweitert, sodass ab 2029 ein Anspruch für alle Grundschulkinder besteht. Viele berufstätige Eltern erhoffen sich dadurch eine Entlastung bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) sieht einen wichtigen Schritt gegen den Fachkräftemangel, schließlich könnten berufstätige Eltern dann wieder mehr arbeiten.

Im Zentrum des Rechtsanspruchs steht allerdings die Entwicklung der Kinder: Der Ganztag soll als „Lebensraum“ verstanden werden, in dem soziale Kontakte geknüpft, neue Fähigkeiten gelernt und Bildungsangebote wahrgenommen werden können, so das BMFSFJ. Die Sprachförderung spielt dabei eine besondere Rolle als „Grundlage für die Teilhabe an Bildungsprozessen und für die Realisierung von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit mit dem Ziel der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft“, so die Kultusministerkonferenz (KMK).

Chancengleichheit durch alltagsintegrierte Kompetenzförderungen

Dass Ganztagsangebote zur Chancengleichheit beitragen können, betont auch Nicole Zaruba, gegenüber der GEW-Zeitschrift „Erziehung und Wissenschaft“. Jedenfalls wenn die Vormittags- und die Nachmittagsangebote nicht getrennt voneinander, sondern miteinander verzahnt würden, so die Professorin für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Nur so könne neben der Betreuung auch die individuelle Förderung einer heterogenen Gruppe von Schülerinnen und Schülern gewährleistet werden.

Auch die KMK hält in ihren Ende 2023 veröffentlichten Empfehlungen zur Weiterentwicklung der pädagogischen Qualität der Ganztagsschule fest: „dass nicht der erweiterte Zeitrahmen der Ganztagsschule bereits per se eine Wirkung auf individuelle Förderung entfaltet, vielmehr kommt es auf die Qualität der Angebote“ an.

Baden-Württemberg startet Sprachförderungsprogramm

Das Land Baden-Württemberg beispielsweise will mit seinem Programm „SprachFit“ die Sprachförderung verbessern und dies gezielt beim Ausbau der Ganztagsangebote fokussieren. Denn: „Kinder sollen nur noch schulbereit in die Schule kommen“, so das Baden-Württembergische Bildungsministerium. Sprachkompetenz sei die Basis für schulische Bildung.

Deswegen setzt das Programm „SprachFit“ an verschiedenen Stellen an, um Sprachbildung zu fördern. So soll beispielsweise bei der Einschulungsuntersuchung festgestellt werden, ob ein Sprachförderbedarf besteht oder nicht. Wenn dies der Fall ist, folgt eine verpflichtende, zusätzliche Sprachförderung von vier Wochenstunden in der Zeit vor der Einschulung. Außerdem garantiert das Bildungsministerium den Schülerinnen und Schülern der Vorbereitungsklasse der Zugang zu einer Ganztagsschule. Wichtig sei dabei eine hohe Flexibilität in den Angeboten, betont Thomas Speck, Vorsitzender des Landesschulbeirats Baden-Württemberg: „Klar ist, nicht überall wird das gleiche Konzept erfolgreich sein.“

In der Grundschule kann die Sprachbildung mithilfe von „Juniorklassen“, die vergleichbar mit einer Art „Klasse 0“ sind, sowie zusätzlichen Sprachförderstunden unterstützt werden. Auch multiprofessionelle Teams spielen hier eine besondere Rolle. Gleichzeitig werden die Programme Sprach-KiTa und „Lernen mit Rückenwind“ fortgeführt, sodass Sprachförderung bereits in der frühkindlichen Bildung sowie in der weiterführenden Schule fokussiert wird.

Sprachförderung als Beispiel für Kompetenzförderung

Sprachbildung ist ein elementarer Bestandteil der Kompetenzförderung, da sie die Grundbedingung für gesellschaftliche Teilhabe ist. Die Leiterin des Berliner Zentrums für Sprachbildung, Martina Reynders, erklärt im Interview mit politik-digital e. V.[1], wie fruchtbar die Sprachförderung sein kann, wenn sie ganztägig und alltagsintegriert ist: „Im Ganztag kann das Kind die Prinzipien Sprache und Handeln, Sprache und Musik, Sprache und Bewegung erleben und so Sprache ganzheitlich erfahren.“

Diese Lernprozesse fänden in außerunterrichtlichen Angeboten ebenso statt wie in den fächerübergreifenden Unterrichtsstunden. Am Beispiel des Mittagessens erläutert Reynders: „Es ist ohne viel Aufwand möglich, ein Poster mit Begriffen und Symbolen zum Thema Ernährung als Sprachgerüst zu entwickeln.“

Ein wichtiger Schritt?

Thomas Speck nennt es einen großen Schritt, dass nun „endlich die Kitas und Grundschulen im Zentrum der Bildungspolitik“ stünden. „Ich setze darauf, dass dies erst der Anfang war und wir auch auf diejenigen schauen, die bereits erwachsen, aber leider ohne Ausbildung sind.“ Auch Jugendliche und Erwachsene würden von Sprachförderung profitieren.

Auch die Umsetzung bleibt eine Herausforderung: Der Landesschulbeirat Baden-Württemberg fragt, um eine Stellungnahme gebeten, bereits: „Wer soll die Juniorklassen übernehmen? Beim derzeitigen Fachkräftemangel ist das ein wichtiger Punkt.“ Gleichzeitig bleiben zahlreiche Förderanträge der Kommunen, die für den Ganztagsausbau verantwortlich sind, unbeantwortet. In Baden-Württemberg musste im August das Los über die Bewilligung der Anträge entscheiden. „Diese Mittelvergabe nach dem Zufallsprinzip ist ein Offenbarungseid“, der nur als „ein aus der Not geborener erster Schritt verstanden werden“ könne, so Norbert Brugger, Städtetagsdezernent Baden-Württembergs, gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“. Bund und Land müssten die Kommunen finanziell angemessen unterstützen. Gleichzeitig befürchtet Brugger, dass selbst die bewilligten Projekte nicht innerhalb des Zeitrahmens fertig gestellt werden könnten. Es bleibt also abzuwarten, ob die mit dem geplanten Ganztagsausbau zusammenhängenden Maßnahmen die versprochene Wirkung entfalten – nicht nur in Baden-Württemberg, sondern deutschlandweit.

[1] Stephan Lüke: Chancen nutzen: Sprachbildung im Ganztag. 22.11.2021. In: https://www.ganztagsschulen.org/de/ganztagsschule-vor-ort/lernkultur-und-unterrichtsentwicklung/chancen-nutzen-sprachbildung-im-ganztag.html. Datum des Zugriffs: 30.10.2024

Für die Umsetzung der Ganztagsbetreuung stellt der Bund 3,5 Milliarden Euro bereit, die von den Ländern für den Ausbau beantragt werden können. Ganztägige Betreuung bedeutet nicht, dass die alleinige Verantwortung bei den Schulen liegt. Vielmehr sollen die Schulen mit außerschulischen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe sowie privaten Trägern zusammenarbeiten. Die Gelder sind für den Infrastrukturausbau gedacht: z. B. für den Erwerb von Gebäuden oder Grundstücken, für Neu- und Umbauten oder Erweiterungen. Wie die einzelnen Bundesländer die Ganztagsangebote umsetzen, bleibt ihnen überlassen. Aktuell besucht etwas mehr als die Hälfte der Grundschulkinder, rund 1,8 Millionen, Bildungseinrichtungen mit ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten.

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Quellenangabe: Dieser Beitrag erschien zuerst im didacta Themendienst.
Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/menschen-frauen-sitzung-sitzen-8422132/
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